Das Datendilemma im Bildungswesen

Andreas Klausing von Educa fordert anlässlich des ersten Programm-Meetings des NFP 77 eine Datennutzungs-Strategie für das Schweizer Bildungswesen.

Die Digitalisierung verändert den Schulalltag –nicht erst seit dem Frühling 2020, als das gesamte Bildungswesen in der Schweiz auf Fernunterricht umstellen musste. Der Aufschwung digitaler Technologien geht mit einer riesigen Menge Daten einher: Fluch oder Segen für das Bildungssystem?

Dorothee Brovelli, Prorektorin Forschung und Entwicklung an der PH Luzern, fallen sofort diverse spannende Felder ein, die von einer breiten Datenbasis profitieren könnten: «Wir könnten etwa den Lernerfolg bei Schülerinnen und Schülern noch besser verstehen und vermutlich sogar vorhersagen, wenn wir diesen in Verbindung mit Faktoren wie Verhalten, Hintergrund und pädagogischen Innovationen setzen», erklärte sie am ersten Programm-Meeting des Nationalen Forschungsprogramms «Digitale Transformation» NFP 77. «Oder wenn eine bestimmte Schule besonders gut abschliesst, könnten uns deren Daten zum Verständnis verhelfen, worin der Schlüssel ihres Erfolgs liegt». Als Forscherin sieht Brovelli neue und breitere Datenquellen als Schlüssel zur Optimierung der Bildung auf allen Stufen. Gleichzeitig ist ihr aber auch bewusst, dass ein kritischer Umgang mit den Daten unabdingbar ist.

Grosse Datenmengen bringen mehr Korrelationen hervor – aber zeigen diese auch einen ursächlichen Zusammenhang? Ist die Qualität der Daten gewährleistet? Je nachdem, wer Daten sammelt oder zur Verfügung stellt, lässt sich auch der berüchtigte Auswahleffekt (selection bias) nicht ausschliessen. Und nicht zuletzt: Wie erhalten Forschende Zugang zu diesen neuen Datenquellen, wie erfahren sie davon?

Dorothee Brovelli.

Das Thema Zugang ist auch für Andreas Klausing zentral. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Educa, der Fachagentur des Bundes für den digitalen Bildungsraum Schweiz. Educa hat unter anderem den Auftrag, ein Programm zur Entwicklung einer schweizweiten Datennutzungspolitik aufzubauen.  «Wer entscheidet über Zugang oder Freigabe von Daten? Wiegen die Interessen der Forschung höher als die individuellen Interessen etwa von Schülerinnen und Schülern?», gibt er zu bedenken. Es geht also darum, einen sorgfältigen Umgang mit Daten zu finden und gleichzeitig die Potenziale, die sich durch die Digitalisierung für die Bildung eröffnen, in der Forschung aufzugreifen und zu nutzen. Ein Ansatz, der laut Klausing auch für die Forschenden der aktuell laufenden NFP77-Projekte im Bereich Bildung, Lernen und digitaler Wandel von Bedeutung ist.

Andreas Kiesling, Educa

Datenerfassung und Forschung damit ist nur die eine Seite. Die andere der Umgang der Lehrerinnen und Lehrer mit solch neuen Werkzeugen. Dorothee Brovelli begegnet bei ihren Studierenden zwei gegensätzlichen Haltungen: auf der einen Seite eine Skepsis gegenüber dem Sammeln von Daten und ein gewisses Unbehagen, sich als Lehrkraft zu sehr in die Karten schauen zu lassen – auch die eigene Leistung wird dann plötzlich erfasst. Wobei das Unbehagen, wie Brovelli ausführt, daher rührt, dass die Leistung der Lehrkraft falsch interpretiert werden kann, wenn zum Beispiel Schülerleistungen trotz gutem Unterricht tief ausfallen. Andererseits stellt die Forscherin bei Lehrpersonen aber auch ein steigendes Interesse fest, Erkenntnisse aus der Forschung in den eigenen Unterricht einfliessen zu lassen. Klausing und Brovelli sind sich einig, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung sorgfältig umgesetzt werden, kann sich das Bildungswesen noch stärker in Richtung «evidenzbasierter Unterricht» bewegen.

NFP 77-Projekt: Fachdidaktische Kompetenzen von MINT-Lehrpersonen im Umgang mit digitalen Ressourcen

Nach einem durch die Pandemie bedingten teilweise schwierigen Start in die Forschungsphase haben praktisch alle Projekte Fahrt aufgenommen und in vielen Fällen sogar erste Zwischenresultate erarbeitet. Das war der Zeitpunkt, um die Forschung und die Praxis, an die sich die Resultate eines Nationalen Forschungsprogramms richten, ein erstes Mal zusammentreffen zu lassen. Am ersten Programm Meeting formulierten Persönlichkeiten aus dem Kreis der Stakeholder ihre Thesen, Fragen und Erwartungen an das NFP 77. Forschende reflektierten und konterten. Insgesamt ein Tag des intensiven Austausches.