Demokratie funktioniert auch digital. Die «Demokratiefabrik» zeigt wie.
Durch die Digitalisierung eröffnen sich neue Möglichkeiten der Beteiligung von Bürger:innen bei politischen Prozessen. Mit der Online-Plattform «Demokratiefabrik» führte das Team von Marc Bühlmann einen Versuch durch.
Bürgerinnen und Bürger sollen stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden können. Die Digitalisierung bietet dafür zahlreiche Möglichkeiten. Ein konkretes digitales Beteiligungsformat, haben Marc Bühlmann und sein Forschungsteam des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern im Rahmen des Forschungsprogramms NFP 77 entwickelt und untersucht. Die Online-Plattform «Demokratiefabrik» bedient sich im Unterschied zu Sozialen Medien diverser Mechanismen, die darauf abzielen, den Austausch zwischen unterschiedlichen Positionen zu fördern und eine möglichst breit abgestützte Beteiligung zu erzielen.
Der nachfolgende Text wurde am 28. Februar 2024 erstmals im DeFacto Blog veröffentlicht.
Die Autor:innen sind: Giada Gianola, Dominik Wyss, Anja Heidelberger, Marlène Gerber
In einem einmaligen digitalen Partizipationsprojekt erarbeiteten über tausend Stimmberechtigte aus der Deutschschweiz gemeinsam ein Argumentarium zum Klima- und Innovationsgesetz, das im Juni 2023 zur Abstimmung kam. Die zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger konnten auf der eigens dafür entwickelten Online-Plattform «Demokratiefabrik» Argumente für oder gegen das Bundesgesetz vorschlagen, begutachten, bewerten und kommentieren. Was zeichnete die Teilnehmenden aus und wie haben sie das Argumentarium entwickelt?
Zufällig ausgewählte Bürger:innen erarbeiten Pro- und Contra-Argumente zusammen
Auf der Demokratiefabrik konnten die Teilnehmenden ein Argumentarium mit Pro- und Contra-Argumenten zur eidgenössischen Abstimmungsvorlage «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit», die vom Volk in der Abstimmung vom 18. Juni 2023 angenommen wurde, selbständig erarbeiten. Die Teilnehmenden wurden vom Marktforschungsinstitut LINK rekrutiert und nach repräsentativen Kriterien wie Geschlecht, Urbanität und Alter ausgewählt. Während drei Wochen im Frühling 2023, konnten sie sich unabhängig von Ort und Zeit beliebig einloggen und partizipieren. Die Teilnahme erfolgte zudem nicht mit Realnamen, sondern unter einem Pseudonym. Als Pseudonym wurden die Namen von Schweizer Bergen verwendet.
Unterstützung durch künstliche Avatare
Zwei künstliche Moderatoren (Avataren) unterstützten die User auf der Online-Plattform. Diese halfen den Teilnehmenden bei der Orientierung auf der Plattform und führten so auch digital weniger erfahrene Teilnehmende durch die Demokratiefabrik.
Auf der Plattform erhielten die Teilnehmenden zunächst Informationen über das Klima- und Innovationsgesetz (siehe Infobox 1). Diese Informationen wurden vom Forschungsteam zusammengestellt und von easyvote auf ihre Neutralität und Verständlichkeit überprüft.
Die Abstimmungsvorlage – Das Klima- und Innovationsgesetz
Im Juni 2023 fand die Volksabstimmung über das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KlG) statt. Dieses beinhaltete Ziele und grobe Massnahmen für den Schweizer Klimaschutz. Die Hauptbestandteile des Gesetzes sowie des dazugehörigen Bundesbeschlusses waren folgende:
- Die Festlegung eines Ziels, damit die Schweiz bis 2050 klimaneutral ist. Das bedeutet, dass entweder keine Treibhausgase mehr ausgestossen werden oder der Ausstoss von Treibhausgasen ausgeglichen wird (Netto-Null-Ziel);
- Der Ausbau von Technologien, um bereits ausgestossenes Treibhausgas zu reduzieren (z. B. Verfahren, um CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen);
- Eine finanzielle Förderung für Unternehmen, damit diese den Ausstoss von Treibhausgasen durch neuartige Technologien reduzieren;
- Eine finanzielle Unterstützung für den Ersatz von nicht nachhaltigen Heizungen (fossile und elektrische Heizungen) und für Gebäudesanierungen.
Hohes Engagement der Beteiligten
Von den 1176 Personen, die ihre Position zur Vorlage offengelegt haben, haben sich insgesamt 1023 Personen in irgendeiner Form auch an der Erstellung des Argumentariums beteiligt (mind. ein Argument bewertet). Das Engagement war dabei sehr hoch: 880 Teilnehmende haben sich während drei Wochen an mehr als einem Tag eingeloggt. Die Teilnehmenden reichten insgesamt 98 Argumente (50 Pro- und 48 Contra-Argumente) ein und 462 Teilnehmende erstellten ein Gutachten zu mindestens einem dieser Argumente. Zudem wurden 2625 Kommentare verfasst (von 463 Teilnehmenden), was eine hohe Bereitschaft der Teilnehmenden zeigt, das Klima- und Innovationsgesetz und damit verbundene Fragen zu diskutieren.
Jugendliche blieben trotz innovativem digitalem Format untervertreten
Das Engagement auf der Online-Plattform war relativ ausgeglichen. Tabelle 1 zeigt, dass leicht mehr Männer als Frauen teilnahmen. Bezüglich Alter hat das innovative digitale politische Beteiligungsformat das Interesse der jungen Bevölkerung jedoch leider nicht erreicht: Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahre waren im Vergleich zu anderen Altersgruppen untervertreten.
Wie in der ersten Fallstudie mit der Demokratiefabrik zeigten auch diesmal die Teilnehmenden ein hohes politisches Interesse. Schliesslich nahmen Teilnehmende, die sich auf dem politischen Spektrum rechts oder links positionieren, etwa gleichermassen teil.
Merkmale der Teilnehmenden
Anteile
Geschlecht
Frauen
Männer
45.0%
55.0%
Alter
18-25 Jährige
26-45 Jährige
46-65 Jährige
Übrige 65 Jährige
4.8%
29.3%
43.1%
22.8%
Politisches Interesse
Tabelle 1: Teilnehmendenfeld der Demokratiefabrik. Alix d’Agostino, deFacto © Demokratiefabrik
(eher) hoch
(eher) tief
82.9%
17.1%
Positionierung auf Links-Rechts-Achse
(eher) rechts
Genau in der Mitte
(eher) links
43.1%
18.0%
38.9%
Abbildung 1 zeigt, wie sich die Teilnehmenden zur Abstimmungsvorlage positioniert haben. Bevor die Teilnehmenden die Möglichkeit hatten, Argumente für oder gegen das Klima- und Innovationsgesetz vorzuschlagen, wurden sie gefragt, ob sie eher für oder gegen die Abstimmungsvorlage waren (auf einer Skala von 0–100), wobei sie ihre Position in einer kurzen Stellungnahme begründen mussten.
Die meisten Teilnehmenden befanden sich im Pro-Lager. Zum Zeitpunkt der Studie (März–April 2023) waren 77 Prozent der Teilnehmenden (eher) für die Vorlage und 21.5 Prozent waren (eher) dagegen. Einige waren zu diesem Zeitpunkt noch unentschieden. Am Ende der Demokratiefabrik gaben 73.4 Prozent der Befragten an, an der Urne eher oder sicher ein Ja einzulegen. Diese Werte sind vergleichbar mit der zeitlich ähnlich gelagerten ersten SRG-Umfrage (72% Ja), liegen aber höher als diejenigen der ebenfalls Ende April durchgeführten Tamedia-Umfrage (58% Ja).
Diese Grafik stand den Teilnehmenden in der Demokratiefabrik zur Verfügung. Durch Klicken auf jeden Punkt konnten die Teilnehmenden die Stellungnahme der anderen Teilnehmenden lesen und mit ihnen interagieren. Auf diese Weise konnten die Beteiligten sehen, dass sie nicht allein auf der Demokratiefabrik waren.
Die erarbeitenden Argumente standen der Bevölkerung zur Verfügung
Auf der Demokratiefabrik konnten die Teilnehmenden nicht nur Pro- und Contra-Argumente vorschlagen, sie konnten auch von anderen Teilnehmenden vorgeschlagene Argumente bewerten und begutachten sowie Verbesserungsvorschläge für bestehende Argumente einreichen. Zudem konnten sie via Kommentarfunktion über die Vorlage diskutieren. Zusätzlich wurden die Teilnehmenden der Demokratiefabrik aufgefordert, zu bewerten, wie relevant die eingegebenen Argumente für ihren persönlichen Stimmentscheid sind. Die aus Sicht der Bürgerinnen und Bürgern relevantesten Argumente wurden am Ende zusammengetragen und in Form eines Argumentariums aufgelistet.
Das Projektteam hat vor der Publikation einzig kleine grammatikalische Änderungen an den Argumenten vorgenommen.
Dieses Argumentarium stand der Schweizer Stimmbevölkerung zur Meinungsbildung bei der Volksabstimmung im Juni 2023 zur Verfügung. Das finale Argumentarium wurde in der Demokratiefabrik veröffentlicht, über verschiedene digitale Kanäle verbreitet und im Rahmen eines Pilotprojekts in der Stadt Wohlen (AG) per Post an Tausende von Schweizer Haushalten verschickt.
Das Argumentarium stellt eine wichtige Ergänzung zu den zahlreichen bereits verfügbaren Abstimmungsinformationen dar. Der grosse Vorteil des Argumentariums ist, dass es die Sicht der Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt. Bei der Erarbeitung wurde bewusst auf den Einbezug von Fachexpertinnen und Fachexperten sowie Politikerinnen und Politiker verzichtet. Damit unterscheidet sich die Demokratiefabrik von anderen sogenannten Mini-Publics, die bereits in der Schweiz und vor Ort stattfanden (Geisler und Stojanović 2020; Geisler 2023; Heimann et al. 2023). Wie das Argumentarium der Demokratiefabrik, das sich auch von der Form her von bekannten Argumentarien unterscheidet, bei der Bevölkerung angekommen ist, werden weiterführende Auswertungen zeigen.
Fazit
Die Entwicklung eines Argumentariums mit Argumenten für oder gegen das Klima- und Innovationsgesetzt auf der selbst-entwickelten Online-Plattform Demokratiefabrik war durch ein starkes und ausgewogenes Engagement der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger gekennzeichnet, auch wenn (stark) politisch interessierte Personen überrepräsentiert waren. Die Diskussionen unter den Teilnehmenden waren bemerkenswert intensiv und spiegelten einen dynamischen Austausch von Ideen wider. Besonders hervorzuheben ist, dass die Erstellung des Argumentariums eine gemeinschaftliche Anstrengung war, die vollständig von den Bürgerinnen und Bürgern getragen wurde, ohne die Beteiligung von Expertinnen und Experten: ein Argumentarium von Bürgerinnen und Bürgern für Bürgerinnen und Bürger.
Weiterführende Links:
- Zur Demokratiefabrik
- Zum NFP 77 Forschungsprojekt: Mehr demokratische Rücksprache dank Digitalisierung?
- Weitere Forschungsarbeiten im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 77
Hinweis: Der originale Artikel auf defacto.expert wurde von Remo Parisi (DeFacto) bearbeitet.